20. Betrachtung

Wie man zur Jesusähnlichkeit gelangen könnte.

In Immanuelgeliebte Seele! Der Herr Jesus, der lebendigmachende Geist, lasse sich im innersten deines Gemütsgeistes fühlen und empfinden; er verkläre sich stufenweise in dir, bis du ganz in sein Bild erneuert bist!

Du fragst bei mir an, ob es möglich sei, zur völligen Jesusähnlichkeit zu gelangen, und gibst zu, dass wohl einige zu dieser hohen Stufe der Seligkeit kommen; aber für dich selbst steigen dir allerlei Zweifel auf, ob du dieses herrliche Ziel auch erreichen könntest. Bedenke, aber dass das, was hierin einem möglich war, auch allen möglich ist! Wie anders aber kann es werden, als durch den lebendigen, allvermögenden Glauben? „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt“ (Mark. 9, 23), oder dem in dem Glauben geborenen allmächtigen Jesus Christus. Paulus sagt Phil 4, 13: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht“. Der Herr Jesus selbst aber sagt: „Ohne mich könnet ihr nichts tun“ (Joh. 15, 5).  Und Jak. 4, 8 steht: „Nahet euch zu Gott, so naht er sich zu euch!“ Also ist es nur daran gelegen, dass der Mensch sich zu Gott nahe. Obgleich er nicht ferne ist von einem jeglichen Menschen, so ist doch der natürliche Mensch ferne von ihm. Will aber der Mensch zu Gott kommen, so hat er eine große Reise durch die kleine Welt, d. i. durch sich selbst zu machen; denn erst am Ende der Natur findet er Gott. Vereinigt mit ihm kann er aber nur werden durch den Anfang der Kreatur Gottes, durch den in den Geist erhöhten Christus.

Dieser Christus ist das Licht der Welt; wer ihm nachfolgt, hat das Licht des Lebens. Er ist die Sonne der inneren Welt, durch die sich Gott dem Glauben mitteilt. Jesus ruft uns zu: Ändert euren Sinn, denket unsichtbaren, ewigen Dingen nach, kehret aus der Vielheit, aus Natur und Kreatur in euren Ursprung, in die Einheit zurück! Machet es, wie ich es gemacht habe, lasset euch selbst und alle Dinge schwinden, so werdet ihr in euern Ursprung und mit ihm Leben, Ruhe, Frieden und Allgenugsamkeit finden! Lasset euch nicht ewig in dem Unruhrade der Eitelkeit dieser Welt umtreiben! – Ruft uns der Anfang und Ursprung der Kreatur Gottes so freundlich in seine Nachfolge, so gibt es für uns keinen andern und bessern Rat, als seiner Stimme zu folgen; denn nur durch die Menschheit Jesu können wir mit Gott vereinigt werden. In diesem Sinn, denke ich, will das Wort von Jakobus uns sagen: Naht euch durch die Menschheit Christi zur Gottheit; wie auch der Herr selbst gesagt hat: Niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh. 14, 6).

Christus ist nicht nur des Gesetzes Ende, sondern in seinem Geist und erhöhten Fleisch und Blut findet auch die Natur ihr Ende. Zu diesem, also zu Christus muß das Gesetz uns treiben, und dies tut es auch bei allen seinen eifrigen Beobachtern; denn je mehr sie es zu halten suchen, desto stärker wacht das Sündengesetz in ihnen auf und macht sie nach Freiheit schreiend; diese ist aber nur in der Einheit der Dreiheit, in Jesus, in seiner Gottmenschheit zu finden.

Sucht nun die ganze Begierde des Menschen nichts anderes als Jesus allein, fühlt sich die arme Seele in der Finsternis gefangen und wünscht von ganzem Herzen Freiheit, Leben und Frieden, ist ihr die Sünde und alle Eitelkeit der Welt zur Last geworden, so geht sie in Wirklichkeit aus allem aus, naht sich zu Gott, ändert den Sinn und geht in ihren Ursprung ein. Jetzt hat sie in das Gesetz der Freiheit geblickt, sieht in Christus der Natur Ende und hat ihren Erlöser gefunden. Will nun die zur Freiheit gelangte Seele fortan in aller Welt nichts mehr besitzen, und betet sie stets, dass sie nie mehr wieder etwas anderes suche und meine, so muß er ihr ausgeleertes Herz und Gemüt mit sich selbst erfüllen; er naht sich ihr und muß sich endlich von der nun lautern Geistestinktur, ausgehend aus Herz und Hirn, fühlen und erkennen lassen. Was dabei in der Seele vorgeht, lässt sich besser erleben als beschreiben; denn in solchen Erfahrungen geht Geist mit Geist um, und das ist mehr, als alle irdische Liebe sich wünschen kann. Die gläubige Seele hat nun die Einheit und mit dieser die Allgenugsamkeit gefunden.

Die Einheit ist’s, die wir vergeblich in der Vielheit suchen; unser ewiger Hunger ist’s, der uns umtreibt, bald dieses, bald jenes zu begehren. Haben wir Wahrheitsgefühl, und strahlt das Licht des Lebens uns an, so erblicken wir blitzschnell die Freiheit in der Einheit und entschließen uns, nichts mehr ohne das Licht von oben zu suchen und wie Petrus die ganze Nacht umsonst zu arbeiten; wir fahren auf Jesu Wort ins Meer und tun einen Zug. Die Freiheit, die wir im Lichte erblicken, reizt uns, unaufhörlich nach Lebenswasser, nach Vollkommenheit und Jesusähnlichkeit zu dürsten. Dieser immerwährende Durst wird dann mit der Fülle Jesu Christi genährt. Alle Mitteilungen aus Jesus-Jehova sind Wesen Gottes, Geist Gottes und Lebensgenuß seines Fleisches und Blutes; sie sind bleibende Eindrücke, ein Same der Herrlichkeit und Unsterblichkeit, eine stufenweise Erhöhung des natürlichen Lebens durchs geistliche ins göttliche Leben und endlich eine Verklärung in das Urbild der Herrlichkeit, nämlich in die Gottmenschheit des Herrn, der Geist ist.

O darum lasset uns von allem ungöttlichen Werk und Wesen ausgehen, ganz in Gott eindringen, nur Jesus nachfolgen, dass wir im Geist leben und wandeln können, als göttlichgesinnte Menschen, die in dieser Welt nichts suchen und verlangen! Fürwahr, wie das Eisen im Feuer jeden Rost verliert, so werden wir im Umgang mit Gott von allen Unarten und allem Verderben errettet werden; den wer mit Gott, als einem Geist umgeht, muß geistlich, göttlich werden. Stets und über allen Dinge wollen wir mit Gott reden,, vor seinem Angesicht wandeln lernen und auf seine Augenleitung merken, so wird er uns eine Liebesglut ins Herz legen, dass es unsere Speise wird, seinen Willen zu tun; ja, es wird uns unmöglich werden, Welt und Sünde zu lieben. Wie leicht würde uns auf diese Weise unser Christentum werden! Wie selig würden wir sein in der Zeit, und wie selig würden wir werden in der Ewigkeit! Gott helfe uns aus Gnaden durch Jesus Christus, je bälder, je lieber in diesen glücklichen Stand!

Welch ein unschuldig Freudenlachen wird bei vollend’ten Seelen sein, wenn sie nach Gottes Bild erwachen und dann ganz anders sehen drein! Dann schämen sie sich nimmermehr; die Herrlichkeit ist ihre Ehr.

Solang die Herrlichkeit uns fehlet, sind wir niemals vergnügt und satt, weil uns ein heimatlich Etwas quälet, das seinen Grund im Herzen hat. Des Menschen Herzensewigkeit ruht nur in Gottes Herrlichkeit.

Mithin ist’s eine wahre Sache: Ich werde erst wahrhaftig satt, wenn ich nach Gottes Bild erwache, das mir der Fall geraubet hat. Im Lichtsleib muß ich auferstehn, soll ich mich ewig glücklich sehn.

Sollt ich in lauter Unruh scheiden und dann auch dort nicht ruhig sein? Nein, dieses kann ich nicht erleiden; sollewig wären diese Pein? Ich senk mich in die Einheit ein, damit ich möge ruhig sein.


««««««««